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LE PANIER, HISTORISCHES ZENTRUM VON MARSEILLE

„Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit. ….“  

Jean-Claude Izzo: Marseille-Trilogie  „Total Cheops“

 

Es ist immer irgendwie nett eine Stadt oder einen Ort auf literarischen Wegen zu durchstreifen. Helga liest gerade den oben genannten Kriminalroman, der sich um Fabio Montale dreht, einem Polizisten aus den Marseiller Vororten. Wir beide finden, dass dem obigen einleitenden Satz aus der Sicht eines kurzzeitigen Besuchers wenig hinzuzufügen ist.

Doch … schon, Marseille hat mediterranes Flair und einiges an Sehenswürdigkeiten zu bieten. Allein schon die Busfahrt jeden Morgen die Küste entlang auf unserem Weg zum alten Hafen und dem Stadtzentrum. Glitzerndes Meer, nur ungefähr eine Seemeile entfernt das Château d’If - das Gefängnis in dem Alexandre Dumas seinen Grafen von Monte-Cristo darben ließ -  die Rundfahrt mit der Touristen Bimmelbahn hinauf zur Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde mit fantastischem Ausblick auf die  Stadt und die Küste.  Dazu das wunderbare Licht der Provence. Wir sind geblendet von der Sonne, die von einem klaren, blauen Himmel strahlt. Der kühle Wind hat sich verabschiedet, die Luft ist angenehm warm und wir lassen uns unser Mittagessen auf der Terrasse eines Hafenrestaurants schmecken. Köstlicher, zart gegarter Tintenfisch auf einem Rotwein-Tomaten-Risotto. 

 

Heute geht es zu Fuß vom alten Hafen in den ältesten Teil Marseilles, dem auf einem Hügel gelegenen Panier-Viertel. 

 

Der Protagonist in Izzo’s Roman, Fabio Montale, ist in diesem Viertel geboren. Eine Passage beschreibt, wie ein Freund Montales nach 20 Jahren Abwesenheit zurückkehrt :

„…  Obwohl es in Strömen goss, weigerte sich der Taxifahrer, in die kleinen Gassen vorzudringen. Er setzte ihn an der Montée-des-Accoules ab. Über hundert steile Stufen und ein Gewirr von Straßen lagen bis zur Rue des Pistoles noch vor ihm. Der Boden war mit aufgerissenen Müllsäcken übersät, und ein säuerlicher Geruch stieg von der Straße auf … Die Renovierungswelle hatte das Viertel erreicht. Einige Häuser waren abgerissen worden. … Von der Rue des Pistoles, vielleicht eine der engsten Gassen, war nur die Hälfte übrig geblieben, die Seite mit den geraden Hausnummern. Die andere war platt gemacht worden, ebenso wie die Rue Rodillat. Statt dessen: ein Parkplatz. … Die Häuser waren schwärzlich, wie von Lepra befallen, zerfressen von einer aus Abwässern gespeisten Vegetation. …“

 

 

Wir steigen die steile Treppe hinauf und lassen uns durch die engen Gassen treiben auf der Suche nach der „Rue des Pistoles“, um dem Gefühl aus dem Roman nachzuspüren. Es ist kaum etwas los, nur wenige Menschen sind unterwegs - und wenn, dann sind es Einheimische, die hier leben und arbeiten. Künstler zum Beispiel, die ihre Bilder ausstellen, draußen an den Wänden hängend. Die Armut vergangener Zeiten und auch heutiger ist allgegenwärtig. Es ist gar nicht viel restauriert und auf uns wirkt diese Altstadt nicht sehr anziehend. Verwahrlosung, Abfall und Schmutz allenthalben. In einigen Straßen und Plätzen gibt es Läden und Restaurants oder Bars, die aber jetzt geschlossen haben. Etliche Bewohner versuchen mit Topfpflanzen entlang der Wände und vor den Türen so etwas wie eine grüne Atmosphäre zu schaffen. Wahrscheinlich ist die Wirkung eine völlig andere, wenn man in den Sommermonaten hier ist, die Straßen voller Leben sind. Was dieses Viertel zu etwas Besonderem macht sind seine vielen, teilweise monumentalen Graffiti. Eine Kunst, die nicht jeder unbedingt schön findet, doch wir sind bei einigen voll der Bewunderung für das Können der Künstler. Und dann stehen wir vor der „Rue des Pistoles“ … und es ist genau wie in dem Roman beschrieben. Nur sind die Häuser längst nicht mehr „schwärzlich, wie von Lepra befallen“, sondern dieser neu entstandene, Sonnen beschienene Platz strahlt hell und freundlich.